Sonntag, 21. September 2014

47. Vetter Engelbert zu Besuch in Argentinien

                 
Vom Schicksal meines Vetters  Engelbert zu berichten, fällt mir schwer, würde jedem  schwer fallen, aber es ist auch ein Beispiel dafür, was Glaube, Zuversicht und grenzenloses Selbstvertrauen aus einem Menschen machen kann, dem bereits in frühester Jugend  bitterstes Leid geschah.

Mein Vetter wurde 1935 als ältestes Kind von fünf Geschwistern in Wolhynien geboren und erlebte als Kind kurz nach dem Polenfeldzug 1940 die berühmt-berüchtigte Aktion „Heim ins Reich“ mit, die Umsiedlung in den Warthe-Gau, nachdem die dort ansässigen polnischen Grundbesitzer einfach enteignet worden waren. Sein Vater war vorher Lehrer und Kantor gewesen und wurde nun im Warthe-Gau Landwirt und bald Bürgermeister. Mein Vetter ging dort zur Schule und wenige Jahre war die Familie glücklich und zufrieden. 

Im Januar 1945 als die Ostfront bedenklich näher rückte, zog die Familie zusammen mit andren Flüchtlingstrecks nach Westen, aber bereits vor Schneidemühl, (Pita, Polen),  trafen sie auf russische Panzer, die wild um sich schossen. Als zwei betrunkene Russen seine Mutter, die das Brüderchen auf dem Wagen stillte, herunterziehen wollten, stellte sich sein Vater dazwischen und wurde erschossen. Bei den anschließenden Plünderungen wurde auch das Brüderchen, eingepackt in Federkissen, vom Wagen geworfen und überlebte nicht. 

In diesen schrecklichen Tagen fand mein Vetter einmal einen Behälter, der wie eine Flasche mit Wäscheblau aussah, steckte ihn in die Tasche und brachte ihn freudestrahlend der Mutter. Es war eine Granate, die zu Hause noch in seiner Hand explodierte. 

Er wurde schwer verletzt, die linke Hand  abgerissen, an der rechten fehlten zwei Finger und ein Auge wurde zerstört. Die Bitte seiner Mutter nach ärztlicher Behandlung war vergeblich. Für Deutsche stand kein Arzt zur Verfügung. Nur ein Pole bot der Mutter gnädig an, das Kind zu erschießen, da es die Verletzungen sowieso nicht überleben würde. Die Mutter aber kurierte den Jungen so gut sie konnte, mit Kamillentee-Waschungen, mühsamem Ausschneiden  der Splitter und Abschneiden der Hautfetzen. 

Im Oktober 1945 konnte die Mutter mit ihren vier Kindern in einem Sammeltransport Polen verlassen und dabei passierte ein weiteres Unglück. Bei der Gepäckkontrolle fand ein Pole bei seiner Mutter eine Bibel in deutscher Sprache. Im Glauben, es sei ein Nazi-Buch,  schlug er ihr damit ins Gesicht und panikartig stoben die Kinder auseinander. Dabei verloren sie noch den 5jährigen Bruder, den sie trotz späterer Mithilfe des Roten Kreuzes nie wieder gefunden haben. 

In einem Güterzug ging es dann nach Westdeutschland, nach Ülzen.  Dort begann nach und nach wieder ein normales Leben, die Kinder besuchten die Schule und Engelbert bekam eine gute ärztliche Nachbehandlung. 

Leider musste  Engelberts zweites Auge auch wegen verbliebener Splitter entfernt werden und er musste sich auf ein Leben in völliger Blindheit einstellen, lernte Brailleschrift und glücklicherweise fand er eine fabelhafte Ehefrau, die ihn  tatkräftig unterstützte. Sie bekamen zwei Söhne und haben bereits mehrere Enkelkinder.

Mein Vetter und seine Frau haben so viel für die Betreuung Behinderter in Deutschland getan, dass sie von der Bundesrepublik mehrfach ausgezeichnet wurden.


Vetter Engelbert, Ehefrau und Enkel

Dieser Vetter Engelbert  hat uns in Misiones zweimal besucht und trotz seiner Blindheit die Reisen sehr genossen. 

Hildegard Kunzi      Zeichnung: Gerda Schwarz

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