Montag, 23. Juni 2014

19. Vergebliche Suche

                                                                                                                                              
Carl war der zwei Jahre ältere Bruder meines Vaters und beide stammten aus der zweiten Ehe meines zwei Mal früh verwitweten Großvaters.

Die sagenhafte Chronik des viel älteren Halbbruders Otto, in Nr. 15 schon erzählt, hatte noch nicht ihr unrühmliches Ende gefunden, als diese Geschichte die beiden jüngeren Brüder Carl und meinen Vater, kaum 20 Jahre alt,  in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts dazu animierte, auch nach Südamerika aufzubrechen.

Nach einem ebenso abenteuerlichen, wie missglückten Versuch, erst in Brasilien Fuß zu fassen, erschienen beide Brüder in Buenos Aires bei dem gerade mit seinem unerwarteten Reichtum beschäftigten Halbbruder. 

Den jüngeren, meinen Vater, schickte Bruder Otto gleich wieder nach Hause, mit der Legende, dass der Vater ihn in Deutschland dringend brauche  und sehen wolle.
Carl brachte Bruder Otto in der Deutschen Bank unter, zuerst in  Bahia Blanca, dann in Buenos Aires, wo er dann auch blieb.

Zu den frühesten Erinnerungen meiner Kindheit  gehört der Besuch meines Onkels Carl  mit seiner Frau, Tante Tita, aus Südamerika. Er war ein lebhafter lustiger Mann und sie eine nette korpulente Tante mit roter Baskenmütze. Tante Tita soll  einmal argentinische Tennismeisterin gewesen sein, aber danach sah sie damals nicht mehr aus. Beide waren wochenlang bei uns zu Gast und aßen Unmengen Fleisch.

Dann brach der 2. Weltkrieg aus und die Verbindung mit den beiden völlig ab.

Als ich 1950 nach Argentinien kam, erhielt ich den Auftrag von der ganzen Familie, nach dem verschollenen Onkel Carl zu forschen.  Er aber ließ sich verleugnen und wollte von mir nichts wissen. Ich hörte nur, er sei ein interessanter, etwas verschrobener Mann, der aber nach dem Tode seiner Frau völlig heruntergekommen sei. Das sollte wohl die Familie in Deutschland nicht erfahren. Er war kinderlos und ist später in Misiones gestorben. Das war dann das Ende meiner Nachforschung.

Aber durch einen Zufall hörte ich dann doch noch einmal von ihm.

Bei einem Deutschlehrertreffen in Buenos Aires traf ich eine ältere Kollegin. Wir kamen ins Gespräch und sie sagte mir, sie wohne in Burzaco, einem Vorort im Südwesten von Groß-Buenos Aires.
 „Burzaco? Da hatte einmal ein Onkel von mir ein Landhaus!“ erinnerte ich mich.
„Wie hieß der denn?“ fragte sie. Als sie den Namen  hörte, erklärte sie mir: “In dem Haus wohne ich!“ und schaute mich etwas misstrauisch an, ob ich vielleicht etwa noch irgendwelche Erbansprüche wegen des kinderlosen Onkels stellen wollte.



Beruhigt darüber, verabredeten wir noch ein Treffen mit ihr, aber ehe wir ihre Einladung in dem ehemaligen Haus meines Onkels  annehmen konnten, verstarb sie.

Rosemarie Mueller-Wortmann

Zeichnung: Gerda Schwarz



Die einzigen Fotos von Onkel Carl und Tante Tita in Buenos Aires, etwa um 1930

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